Wittenberg

Beschreibung und Protokoll

An der St. Marienkirche in Wittenberg, der Predigtkirche Luthers befindet sich außen an der Südost-Ecke des Chores in etwa sieben Meter Höhe ein Sandsteinrelief mit einer „Judensau“-Darstellung, die wohl aus der Bauzeit der Kirche (um 1300) stammt.


Antisemitische Hohnskulptur


Abbildung bei Isaiah Shachar


die Lage der Skulptur an der Kirche

Bei einem Besuch in Wittenberg im August 2003 fanden wir außer dem Bronzerelief „Stätte der Mahnung“ unterhalb der „Judensau“-Skulptur auch innerhalb der Kirche zwei Informationswände zur Entstehung der Bodenplastik. In der Touristen-Information fanden wir zwei fotokopierte Informationsblätter (deutsch und englisch), Postkarte des Bronzereliefs und ein gedrucktes Faltblatt, das auch in der Kirche auslag.

Wir beobachteten mehrere Stadtführungen, bei denen auf beide Reliefs eingegangen wurde.

Wolfram P. Kastner


Bodenplatte in Wittenberg
gestaltet von Bildhauer Wieland Schmiedel
» zum Text auf der Bodenplatte


Tafel in Wittenberg




Faltblatt der Gemeinde


Evangelische Stadtkirche St. Marien
Stätte der Mahnung

Am 11. November 1988 wurde an der Südseite der Stadtkirche dieses Mahn- und Bußzeichen der Öffentlichkeit vorgestellt.

Dieses Mahnmal will mehr sein als nur mahnende Erinnerung an die vielen Leiden und Opfer der jüdischen Mitbürger von 1933 bis 1945. Es will eine Antwort sein zu dem alten Schmäh- und Spottbild der sogenannten Judensau. Dieser in Sandstein gehauene Spott auf die Juden hat eine lange Geschichte. Seit dem 12. Jahrhundert wird die "Judensau" zu einem weitverbreitetem Motiv an und in Kirchen Europas. Das Sandsteinrelief an der Süd-Ost-Ecke der Wittenberger Stadtkirche (um 1305) hat eine eigene Wirkungsgeschichte. Nicht allein dadurch, daß es jedem Touristen durch die Stadtbilderklärer vorgestellt wird, sondern mehr noch dadurch, daß Martin Luther in seiner antijüdischen Schrift von 1543 ausführlich darauf zu sprechen kommt. Der Judenhaß hat seine schlimme Geschichte in unserer Kirche. Wer draußen an dieser Kirche ein solches Schandmal sieht, muß wohl daran erkennen, wie man in dieser Kirche denkt! Wie war es möglich, daß dieses Relief so lange unangetastet stehenbleiben konnte?

Es waren Glieder der Jungen Gemeinde, die 1980 mit einer Eingabe an den Gemeindekirchenrat eine Diskussion in Gang setzten, an deren Ende das neue Mahn- und Bußzeichen steht.

Es war kein Festtag, der 11. November 1988 in Wittenberg, aber wohl doch ein Datum, das diejenigen nicht vergessen werden, die dabeigewesen sind, als sich eine große Gemeinde auf der Südseite der Stadtkirche versammelte. Wittenberger Gemeindeglieder verschiedener Generationen brachten ihre Betroffenheit zum Ausdruck, ein Jugendlicher trug seine Hoffnungen und Wünsche vor: "Ich wünsche mir kein Schweigen, wenn neben mir Judenwitze erzählt werden. Ich wünsche mir, daß Jugendliche es sich selbst verbieten, mit Eis und Kassettenrecorder in den Händen durch das Lagertor von Buchenwald zu treten. Ich wünsche mir, daß wir beim Umgang miteinander nicht vergessen, wozu Menschen fähig sind." Ob es auch "ein Tag von historischer Bedeutung" wird, wie es der Vertreter der Jüdischen Gemeinde Magdeburg, Herr Dr. Helbig, zum Ausdruck brachte, das wird sich nicht zuletzt darin zeigen, ob wir mit unserem Mahnmal wirklich einen neuen Abschnitt in der Geschichte des Umgangs mit den Juden im Leben und in der Verkündigung unserer Kirche betreten haben.

Der Bildhauer Wieland Schmiedel aus Crivitz/Mecklenburg hat im Auftrag der Stadtkirchengemeinde eine Bodenreliefplatte gestaltet, die das Motiv von Trittplatten aufnimmt, die etwas unter sich verdecken wollen. Aber was da zugedeckt wird, läßt sich nicht verdrängen. Es meldet sich, indem es aus allen Fugen hervorquillt. Die Quetschungen in den Fugen ergeben ein Kreuz. Das Leid der Getretenen findet sich wieder im Leiden und im Kreuz Christi. Der die Bronzeplatte umfassende Text stammt von dem Berliner Schriftsteller Jürgen Rennert. Er nimmt Bezug auf den schwerverständlichen Gottesnamen "Schern Ha Mphoras" oberhalb der ,Judensau", indem er ihn als den von Juden "fast unsagbar" beschreibt. Ein frommer Jude spricht den Gottesnamen aus Ehrfurcht nicht aus. Gott selbst ist mit den ermordeten Juden in den Tod gegangen. Christi Kreuz steht dafür.

GOTTES EIGENTLICHER NAME / DER GESCHMÄHTE SCHEM HA MPHORAS / DEN DIE JUDEN VOR DEN CHRISTEN / FAST UNSAGBAR HEILIG HIELTEN / STARB IN SECHS MILLIONEN JUDEN / UNTER EINEM KREUZESZEICHEN

Wieland Schmiedel, geboren 5. Mai 1942 in Chemnitz, lebt in Crivitz/Mecklenburg. 1960-1966 Lehre und Tätigkeit als Steinbildhauer. Seit 1966 selbständig. 1974/75 Meisterschüler an der Akademie der Künste der DDR bei Ludwig Engelhardt. Seit 1976 freischaffend.

Jürgen Rennert, 1943 in Berlin-Neukölln geboren, gelernter Schriftsetzer. Arbeitete als Hilfspfleger in einem Krankenhaus. Von 1964 bis 1975 Werberedakteur in einem Berliner Verlag. Seit 1975 arbeitet er freiberuflich als Schriftsteller und lebt in Berlin.


» zur Abbildung von Bodenplatte und Tafel